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Sandor FERENCZI

Sonntagsneurosen

Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse (1919)

Online seit: Samstag 12. November 2005

Wir kennen aus der Psychiatrie Krankheitszustände, deren Verlauf ausgesprochene Periodizität zeigt; es genügt wohl, wenn ich an die periodische Manie und Melancholie erinnere. Auch wissen wir seit Freuds psychoanalytischer Feststellung, daß die Psychoneurotiker - von denen bekanntlich so viele an verdrängten Erinnerungen leiden - gerne den Jahrestag oder die Jahreszeit gewisser für sie kritischer oder bedeutsamer Erlebnisse mit der Steigerung ihrer Symptome feiern. Aber Ton Neurosen, deren Symptomschwankungen vom jeweiligen Wochentage abhängig wären, hat meines Wissens noch niemand etwas erwähnt.

Und doch glaube ich, die Existenz dieser eigenartigen Periodizität behaupten zu können. Ich behandelte mehrere Neurotiker, deren spontan erzählte oder während der Analyse reproduzierte Krankheitsgeschichte die Angabe enthielt, gewisse nervöse Zustände hätten sich bei ihnen - zumeist in der Jugendzeit - an einem bestimmten Wochentage, dann aber regelmäßig eingestellt.

Die Mehrzahl verspürte die periodische Wiederkehr der Störungen an Sonntagen. Zumeist handelte es ich um Kopfschmerzen oder Magen-Darmstörungen, die sich ohne besondere Ursache an diesem Tage einzustellen pflegten und den jungen Leuten den einzigen freien Tag der Woche oft gründlich verdarben. Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß ich dabei die Möglichkeit rationeller Ursachen nicht außer acht ließ. Auch die Patienten selbst bemühten sich - scheinbar mit Erfolg - um eine sinngemäße Erklärung dieser sonderbaren zeitlichen Bestimmtheit ihrer Zustände und wollten sie mit der diätetischen Sonderstellung des Sonntags in Zusammenhang bringen. Am Sonntag schläft man länger als sonst, darum hat man Kopfschmerzen, sagten die einen; Sonntags ißt man so viel und so gut, darum verdirbt man sich so leicht den Magen, sagten die anderen. Ich will auch die Wirksamkeit dieser rein somatischen Momente in der Hervorrufung der sonntäglichen Periodizität nicht in Abrede stellen.

Manches spricht aber dafür, daß diese physiologischen Momente den Tatbestand nicht erschöpfen. Der Kopfschmerz z. B. kommt auch, wenn die Schlafdauer am Sonntag von der der übrigen Tage der Woche nicht verschieden war, und die Magenbeschwerden melden sich auch, wenn die Umgebung und der Patient selbst schon gewarnt waren und die Diät an diesem Tage prophylaktisch einschränkten.

In einem der Fälle, die mir bekannt wurden, bekam der kleine Junge jeden Freitag abend Schüttelfrost und Erbrechen. (Es war ein Judenknabe, für den am Freitag abend die ›Sonntagsruhe‹ begann.) Er und die ganze Familie führten den Zustand auf den Fischgenuß zurück; es gab nämlich fast keinen Freitagabend ohne ein Fischgericht. Es nützte aber nicht, daß er sich den Genuß dieser Speise versagte; die Störungen meldeten sich nach wie vor; diesmal wurden sie vielleicht auf die Idiosynkrasie gegen den Anblick der gefährlichen Speise zurückgeführt.

Das psychologische Moment, das ich nun zur Erklärung dieser Bestimmtheit in der zeitlichen Wiederkehr der Symptome als Hilfsfaktor oder manchmal auch als alleinige Ursache heranziehen möchte, ist in den Verhältnissen gegeben, die den Sonntag, auch abgesehen vom längeren Schlaf und dem besseren Essen, kennzeichnen.

Der Sonntag ist der Festtag der heutigen Kulturmenschheit. Man täuscht sich aber, wenn man glaubt, daß der Festtag nur die Bedeutung eines körperlichen und seelischen Ruhetages hat; zur Erholung, die er uns gewöhnlich verschafft, tragen Gemütsmomente eminent bei. Nicht nur, daß wir an diesem Tage unsere eigenen Herren sind und uns von allen Fesseln, die uns die Pflichten und der Zwang von außen auferlegen, befreit fühlen; es geht in uns - damit parallel - auch eine Art innerliche Befreiung vor sich. Wir hörten von Freud, daß die inneren Mächte, die unser Denken und Handeln in logisch, ethisch und ästhetisch einwandfreie Bahnen lenken, nur triebhaft reproduzieren, was einst den Menschen äußere Not aufgezwungen hatte. Was Wunder, wenn beim Nachlaß des aktuellen äußeren Druckes auch ein Teil der sonst schon dauernd unterdrückten Triebe frei wird. Der Nachlaß der äußeren Zensur zieht eben auch die innere in Mitleidenschaft.

Für den Fernstehenden ist es immer merkwürdig zu beobachten, wie sich das Niveau einer Menschengruppe bei festlichen Anlässen verändert. »Auf der Alm, da gibt’s ka’ Sünd’«, sagt der Steirer und meint damit, daß auf einem Sonntagsausflug auf die Alm eben alles erlaubt ist. Erwachsene benehmen sich wie Kinder, die Kinder aber geraten außer Rand und Band, und nicht selten lassen sie sich zu Streichen hinreißen, die dann die Strafe der autoritativen Personen provozieren und der überguten Laune ein jähes und trauriges Ende bereiten. Nicht immer ist es so, denn die Erwachsenen sind bei solchen Anlässen von merkwürdiger Langmut, als fühlten sie sich von einer geheimen und unausgesprochenen Konvention gebunden, die den Schuldigen eine temporäre Straffreiheit zusichert.

Aber es ist nicht jedem gegeben, seinen festlichen Übermut so frei und natürlich auszutoben. Der neurotisch Veranlagte wird gerade bei solchen Anlässen zur Affektverkehrung geneigt sein, entweder weil er allzu gefährliche Triebe zu bändigen hat, die er besonders dann scharf behüten muß, wenn ihn das böse Beispiel der anderen lockt, oder weil sein überempfindliches Gewissen auch kleine Verfehlungen nicht passieren läßt. Außer der zur Unzeit sich einstellenden Depression dieser ›Spielverderber‹ können sich aber ihre durch das Fest aktivierten unterdrückten Regungen samt den dagegen mobilisierten Selbstbestrafungsphantasien in kleinen hysterischen Symptomen manifestieren. Und als solche muß ich auch die eingangs erwähnten sonntäglichen Kopfschmerzen und Magenerscheinungen qualifizieren; der ›lange Schlaf‹, das ›viele Essen‹ usw. sind nur Anlässe, deren sich diese kleine Neurose bedient und mit denen sie ihre wahren Beweggründe rationell verhüllt.

Ein Indizienbeweis für die Richtigkeit dieser Auffassung ist, daß es außer der periodischen, aber rasch vorübergehenden ›Sonntagsneurose‹ auch protrahiertere ›Ferialneurosen‹ gibt. Die damit Behafteten sind während ihrer Schul- oder Amtsferien stets von mehr oder minder lästigen psychischen Zuständen geplagt. Abgesehen von den oben erwähnten ›kleinen Hysterien‹, ist hier eine eigenartige Stimmungsveränderung recht häufig. Ich meine eine gewisse spannungsvolle Langeweile, die die Betreffenden mit keinerlei Zerstreuung hindern können, gepaart mit einer für sie selbst qualvollen Arbeitsunfähigkeit. »Faulheit mit Gewissensbissen«, »eine Faulheit, deren man sich nicht erfreuen kann«, mit diesen Ausdrücken versuchte ein von ihr Betroffener diese Stimmung zu charakterisieren. Ein anderer sprach von einer Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem und erinnerte sich, schon als Kind seine Mutter stundenlang mit der sehr allgemein gehaltenen Bitte geplagt zu haben: »Mutter, gib’ mir etwas!« Was ihm damals die Mutter auch gab, ließ ihn aber unbefriedigt, er raunzte weiter, bis er tüchtig ausgeschimpft oder gar geprügelt wurde; dann gab er sich zufrieden [1]. Sollten hinter den Sonntagsneurosen auch solche unbefriedigten Wunschregungen stecken? Und wenn ja, was ist wohl der Inhalt dieser Wünsche? Woher das schlechte Gewissen, die Straftendenz der Symptome und die merkwürdige, übrigens den Eltern wohlbekannte therapeutische Wirksamkeit der Strafe?

Beim zuletzt erwähnten Patienten konnte die Psychoanalyse - beim besten Willen, endlich einmal etwas Abwechslung in die tiefsten Motive menschlichen Handelns zu bringen - wieder nur Komponenten der Ödipusphantasie als versteckten Inhalt der unbewußten strafbaren Wünsche detektieren: Gewalttätigkeit gegen die Autorität und Bemächtigungsimpulse dem gegengeschlechtlichen Elternteil gegenüber. Solange mich die Erfahrung nichts Besseres lehrt, muß ich auch für die übrigen Festtagsneurosen diese Motivierung der Symptome gelten lassen.

Bei dem Knaben mit den Magenstörungen am Freitag abend kann man der Determinierung der Symptome weiter nachgehen. Es ist bekannt, daß für fromme Juden am Freitag abend nicht nur das Fische-Essen, sondern - auch die eheliche Liebe obligat ist; so wird wenigstens von sehr vielen, besonders den ärmeren Juden, die von der Bibel geforderte Heiligung des Sabbats ausgelegt. Wenn dann der Junge infolge Unachtsamkeit der Eltern hievon mehr als ihm zusagt erfahren oder erlauscht hat, so mag sich in ihm eine stabile Assoziation zwischen dem Fruchtbarkeitssymbol Fisch und jenen aufregenden Vorgängen gebildet haben. Seine Idiosynkrasie wäre so erklärlich; aber auch das Erbrechen wäre dann nur die ›Materialisation‹ der Vorgänge, deren Zeuge er gewesen ist. Die Gestalt des Fisches genügt, um die Assoziationsbrücke hiezu abzugeben.

Die Sehnsucht der Menschen nach Festtagen ist nicht geringer als die nach Brot. Panem et circenses! Freud zeigte uns in seinem ›Totem und Tabu‹, warum die Totem-Clans an gewissen Tagen den Drang fühlen, ihr sonst mit heiliger Scheu angebetetes Totemtier in Stücke zu reißen. Auch die Bacchanalien und Saturnalien haben bei allen Völkern, auch den heute lebenden, ihre Analoga. Selbst die Kirchweihfeste und das Purimfest der Juden enthalten Züge davon. Wir können annehmen, daß bescheidene Reste dieser atavistischen Befreiungstendenz sich auch in die allwöchentliche Feiertagsstimmung einschleichen und bei besonders empfindlichen Gemütern die periodischen ›Sonntagsneurosen‹ verursachen. Den den Festtagen auf den Fuß folgenden ›Katzenjammer‹ oder ›blauen Montag‹ könnte man als Andeutung eines auch hier zutage tretenden zyklischen Ablaufes, d. h. als eine passagère Melancholie auffassen. 
Wenn aber am Festtage beim Nachlassen des äußeren Druckes der Lasten und Pflichten, der Mensch den Drang fühlt, sich auch sexuell zu entladen, so folgt er vielleicht nur der Spur der biologischen Vorgänge, die die Menschheit allezeit zu Festveranstaltungen nötigten.

Die Periodizität der genitalen Vorgänge wäre so das Ur- und Vorbild sowohl des normalen Bedürfnisses, die Plagen des Alltags zeitweise mit Freiheitsfeiern abwechseln zu lassen, als auch der periodischen ›Festtagsneurosen‹, möglicherweise auch des zyklisch alternierenden Krankheitsverlaufes beim manisch-depressiven Irresein.

P.S.

Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse (Internationaler Psychoanaytischer Verlag, Vienne), 1919 (V, 46-48) B., III, 119.

Anmerkungen

[1Der ungarische Dichter Vörösmarty erzählt in seinem köstlichen, humoristischen Gedicht ›Petike‹, wie sich die Mutter umsonst bemüht, ihren von düsterer Traurigkeit befallenen Jungen mit Geschenken, Leckerbissen usw. aufzuheitern: erst bei der Erwähnung der Nachbarstochter Juliska sagt der bis dahin negativistische Kleine mürrisch: »Sie möchte kommen!« - Doch du durchschaut ihn die bisher besorgte Mutter, wäscht ihm ein bißchen den Kopf und schickt ihn in die Schule. 

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